Maike: Imke, Du bist bindungsorientierte Familienbegleiterin, zertifizierte Schlaf-, Still- und Beikostberaterin, zertifizierte PEKIP-Leitung UND staatlich anerkannte Erzieherin. Zusammen mit mir leitest Du seit einigen Wochen das Stillcafe bei den Ahoi Mamas. Seit rund 20 Jahren arbeitest Du nun mit Kindern zwischen 4 Wochen und dem jungen Erwachsenenalter und hast außerdem selbst zwei kleine Töchter. Was würdest Du sagen, wie sich die Elternschaft in den letzten Jahren verändert hat?
Imke: Ein großes Wort in der Elternschaft ist heute die Bedürfnisorientiertheit. Sie ist wichtiger denn je. Leider stelle ich dabei aber immer wieder fest, dass dieses Wort ganz häufig falsch interpretiert wid. Die Eltern, besonders die Mütter, arbeiten sich an den Bedürfnissen der Kinder bis hin zur Selbstaufgabe ab. Sie sehen nicht, dass es bei dem Wort Bedürfnisorientiertheit um alle Bedürfnisse geht - auch um die der Mutter und des Vaters. Es geht im Grunde um einen bunten Strauß an Bedürfnissen.
Maike: Warum sind die Eltern wohl so sehr ausschließlich auf die kindlichen Bedürfnisse fixiert?
Imke: Ich habe den Eindruck, dass das durch Unsicherheiten entstanden ist. Die Eltern bekommen so viele Informationen durch Kurse, Bücher und vor allem social media, dass sie oft gar nicht mehr wissen, woran sie sich orientieren sollen. In Folge dessen haben sie Sorge, sich für den falschen Weg entschieden zu haben und können die Emotionen der Kinder nur schwer bis gar nicht aushalten. Familienbett oder Beistellbett? Stillen oder Flasche? Hausfrau oder Arbeiten? Vollzeit oder Halbtags? Einschlafstillen? Tragen? Stoffwindeln? Abhalten? Die Eltern sind so überflutet von Informationen und Meinungen, dass sie begonnen haben, lieber alles zu kontrollieren, anstatt auf ihre eigene Intuition zu vertrauen.
Maike: Wie sieht diese Kontrolle beispielsweise aus?
Imke: Es wird ganz ganz viel getracked. Für alles mögliche werden Apps genutzt. Zum Beispiel tracken einige Eltern die Stillmahlzeiten, anstatt auf die Hungerzeichen des Kindes zu achten. Oder sie tracken die Schläfchen, anstatt die Müdigkeitszeichen kennenzulernen. Ganz neu ist eine App, die anhand der Postleitzahl erkennt, wie warm es an dem jeweiligen Tag am jeweiligen Ort ist und die dann einen Vorschlag zur Kleidungsauswahl für das Kind macht. Das bedeutet, dass die Eltern eher der App vertrauen, anstatt das Wetter auf dem Balkon und die Kindertemperatur im Nacken zu fühlen. So geben die Eltern mehr und mehr Verantwortlichkeiten ab - und fühlen sich dadurch natürlich immer inkompetenter. Das widerum führt dazu, dass die Eltern noch mehr Leitfäden, Sicherheit und Bestätigung suchen. Sie vertrauen nicht auf ihr Gefühl, ihre Intuition.
Maike: Gibt es denn zum Beispiel beim Thema Schlaf einen Leitfaden?
Imke: Genau das ist dann das Problem, den gibt es natürlich nicht. Jedes Kind ist anders, der Schlafbedarf ist erblich bedingt. Es gibt Lerchen und Eulen. Einschlafstillen ist für den einen gut, für den anderen nicht. Ein Familienbett passt zu der einen Familie wunderbar, zu der anderen überhaupt nicht. Den Leitfaden, den sich die Eltern in ihrer Unsicherheit wünschen, gibt es einfach nicht.
Maike: Die gleiche Herausforderung bringt sicher die Beikosteinführung mit sich, oder?
Imke: So ist es. Der alte Beikostplan von damals ist längst überholt, Stillmahlzeiten werden nicht ersetzt, sondern es wird eben einfach Beikost eingeführt - neben dem Stillen. Aber da geht es dann schon los! Denn wie ganz genau? Wann und was und wieviel? Auch hier geht es darum, zu gucken, was zu der jeweiligen Familie passt. Wird abends immer warm gegessen, kann das Kind den "Mittagsbei" natürlich abends bekommen. Mag die ganze Familie keine Pastinake, braucht das Kind keine Pastinake zu bekommen. Das Ziel der Beikosteinführung ist ja, dass das Kind mit am Familientisch sitzt. Da jede Familie eigene und andere Rituale hat, sollte sich die Beikosteinführung daran orientieren - nicht an einem Beikostplan. Auch hier geht es also eigentlich um das Ausprobieren, Experimentieren und um Intuition. Das ist schon gleich zu Beginn der Beikosteinführung so. Denn man sollte nicht dann starten, wenn jemand anderes es sagt, sondern wenn das Kind die Reifezeichen dafür zeigt. Sonst ist schon der Start für alle einfach ein Krampf.
Maike: Sicher kommst Du auch viel mit dem Thema Grenzen setzen in Berührung, oder?
Imke: Ja, das stimmt. Auch hier ist es häufig so, dass die Eltern sich wünschen, dass die Kinder resilient sind und NEIN und STOP sagen können, sie sich selbst aber nicht trauen, dem Kind gegenüber NEIN und STOP zu sagen. Das beisst sich einfach. In meinen Augen dürfen die Eltern schauen, dass es bei der Bedürfnisorientiertheit um die Bedürfnisse der ganzen Familie geht und nicht nur um die des Kindes. Außerdem könnten die Eltern mehr schauen, was zu ihnen und ihrer Familie passt, anstatt diese Entscheidungen an eine App abzugeben. Was brauchen wir alle, um gut schlafen zu können? Wann und was essen wir alle gerne? Das Kind soll ja ein Mitglied der Familie werden - das ist doch schließlich das Ziel. Und allen soll es dabei gut gehen.
Maike: Gibt es etwas, das Dir noch besonders wichtig ist, zu sagen?
Imke: Ja, dass den Eltern bewusst werden darf, dass es bei ganz vielen Themen rund um das Kind auf die innere Haltung ankommt. Was will ich für mich und meine Familie. Wenn sich dessen jeder bewusst wäre, bräuchte niemand mehr eine App als Absicherung. Die Mütter und Väter können es nämlich eigentlich ganz alleine! Und zwar viel besser als jede App! Sie müssen sich nur wieder trauen. Und dennoch benötigen Eltern dabei eben manchmal professionelle Hilfe, um ihre Gefühle, Ideen und Wünsche einordnen zu können. Mittels gut ausgebildeter BeraterInnen können sie sich in Veränderungsprozessen unterstützen lassen, um dann besser die Probleme anzugehen. Und genau das ist mein Herzensjob, meine Berufung.